Glockengeläut zum „Ehrentag der Aufrechten“

Dr. Konrad Schlude mit der Rheinauer Glocke

Am 23. Juni 1934 wurde der Löffinger Pfarrer Guido Andris durch Nazi-Mob vertrieben. Die Aktion wurde aber zu einem PR-Desaster für die Nazis; dies vor allem deshalb, weil der Löffinger Karl Bader beherzt gegen die Nazi-Meute Sturm geläutet hat. Im Nachgang verhafteten die Nazis 16 Personen, die sich aus unterschiedlichen Gründen, aber sehr oft mit kirchlichem Hintergrund, für den Pfarrer eingesetzt hatten.

Am 90. Jahrestag wurde im Rahmen des Sonntagsgottesdienstes dieses Ereignisses gedacht. In einer Ansprache berichtete Dr. Konrad Schlude über die historischen Hintergründe, aber auch über seine, durch die Löffinger Ereignisse inspirierten Aktivitäten in Kirche und Politik. Manche bezeichnen den 23. Juni 1934 als „schwarzen Tag“, für Schlude ist es aber der „Ehrentag der Aufrechten“. Die Nazi-Gegner haben sich damals trotz Gefahr für ihre positiven Werte eingesetzt. Damit inspirieren sie auch heute noch. Und in einem gewissen Sinn sei der 23. Juni 1934 noch gar nicht vergangen, da er einlädt, sich als Zeuge der Wahrheit einzusetzen.

Zum Abschluss schlug Schlude in Anlehnung an Karl Bader und zur Erinnerung an „die anderen Aufrechten vom 23. Juni 1934“ eine in der Kirche aufgehängte Glocke an.

Literatur:

  • Jörg Waßmer: „In Löffingen untragbar“. Der Konflikt zwischen Stadtpfarrer Guido Andris und den Nationalsozialisten. Hrsg. von der Stadt Löffingen, Löffingen 2015.

Ansprache Dr. Konrad Schlude vom 23. Juni 2024: 90. Jahrestag Vertreibung Pfarrer Guido Andris aus Löffingen

Liebe Brüder und Schwestern,

es ist für mich eine große Ehre, heute zum 90. Jahrestag der Vertreibung von Pfarrer Guido Andris reden zu können. Zwar bin ich aus Jestetten, aber die damaligen Löffinger Ereignisse haben mich tief geprägt und meine ehrenamtliche Arbeit in Kirche und Politik wesentlich beeinflusst. Die heutige Rede ist sozusagen meine Fassung von «ich hab Löffingen im Blut».

Am 23. Juni 1934 hat eine Nazi-Meute den Pfarrer Guido Andris vertrieben, und im Nachgang wurden 16 Personen, die sich aus unterschiedlichen Gründen gegen den Nazi-Mob und auf die Seite des Pfarrers gestellt hatten, verhaftet. Manche bezeichnen diesen 23. Juni 1934 als einen «schwarzen Tag»? Aber ist das eine gute Charakterisierung für uns? Oder anders formuliert: Welche Farbe hat der Tag?

Die historischen Ereignisse inklusive der Vorgeschichte sind im lesenswerten Buch von Jörg Waßmer beschrieben. Wir erfahren, wie sich Guido Andris schon früh mit den Nazis beschäftigt und vor ihnen gewarnt hat. Konsequent hat Andris die NS-Äußerungen analysiert und sich nicht durch oberflächliche Freundlichkeiten täuschen lassen. Der Konflikt mit den lokalen NS-Größen ist immer weiter eskaliert, bis die Nazis für den 23. Juni 1934 die Vertreibung Andris’ angesetzt haben.

Es hätte so wie immer verlaufen sollen. Da taucht eine Nazi-Horde auf, macht mächtig Radau; und niemand wagt es, da einzuschreiten. So hat das auch schon im Jahr davor in Löffingen bei der ersten Verhaftung von Josef Benitz funktioniert. Jörg Waßmer charakterisiert Josef Benitz als «Zentrumsmann und Vertrauter des Pfarrers». Benitz war also kirchlich und politisch aktiv; er war 1933 das einfachere Opfer als der Pfarrer, an den sich die Nazis da noch nicht getraut haben.

Am 23. Juni 1934 trauten sich die Nazis dann doch an den Pfarrer. Aber da ist zumindest aus Sicht der Nazis etwas schief gelaufen, Karl Bader hat beherzt die Glocken geläutet, es hat einen Auflauf gegeben, und auf einmal war die Nazi-Meute nicht mehr wie gewohnt in der Überzahl.

Die Vertreibung von Pfarrer Andris hat dann zwar doch geklappt, aber für die Nazis war es etwas, was wir heute ein PR-Desaster nennen würden. So ist es nicht verwunderlich, dass die Nazis danach diejenigen verhaftet haben, die ihnen aufgefallen sind. Verhaftet wurde unter anderem Josef Benitz und natürlich auch Karl Bader, der mit seinem Glockengeläut ein Zeichen des Widerstands gesetzt hat; Karl Bader war von den 16 Verhafteten am längsten in Haft und kam erst nach einigen Monaten wieder frei.

Die Vertreibung von Pfarrer Andris, ist das nur ein fernes historisches Ereignis? Ich glaube nicht. Durch das Glockengeläut bei Gefahr hat uns Karl Bader ein ungeheuer starkes, uns bewegendes Symbol hinterlassen. Aber die Lehren, die wir ziehen können, gehen noch viel weiter.

Welche Details wüssten wir, wenn sich Jörg Waßmer nicht die aufwendige Arbeit mit seinem Buch gemacht hätte? Natürlich ist Karl Bader mit dem lauten Glockengeläut ins kollektive Gedächtnis eingebrannt. Aber wer würde beispielsweise über Josef Benitz reden; und wie schon dessen erste Verhaftung im Jahr davor zeigt, auch Josef Benitz war eine wichtige Persönlichkeit.

Anders formuliert, wir wissen viel zu wenig von den Aufrechten, den frühen Demokraten, den Opfern; und das liegt vor allem an unserem gigantisch großen blinden Fleck.

Ein Beispiel ist der Reichskanzler Constantin Fehrenbach: Geboren im Bonndorfer Ortsteil Wellendingen, der Vater stammt aus Rötenbach, in vielfältiger Weise ein Nachbar, aber wir beschäftigen uns trotz der Verdienste Fehrenbachs um die Demokratisierung Deutschlands nicht mit ihm. Die parlamentarische Aufarbeitung der Zabern-Affäre war wesentlich von Constantin Fehrenbach geführt, und die unter dem Präsidium von Fehrenbach erarbeitete Weimarer Verfassung war zu ihrer Zeit hochmodern und ist nach wie vor ein wichtiger Meilenstein in der Demokratiegeschichte Deutschlands. Wir aber wissen nicht viel davon, ganz einfach deshalb, weil es in unserem blinden Fleck liegt.

Inspiriert durch die Vertreibung von Guido Andris und insbesondere auch durch die kirchlich-politischen Engagements von Karl Bader und Josef Benitz habe ich mich in meiner Heimat Jestetten auf die Suche nach Zeugnissen von frühen Demokraten und Aufrechten gemacht. Erste Feststellung war, dass fast nichts bekannt ist. Es folgten Anfragen bei zahlreichen Archiven in Deutschland und Österreich, dem Durchforsten von dicken Bänden längst vergessener Zeitungen. Das hat unter anderem zur Wiederentdeckung vom Radolfzeller Reichstagsabgeordneten Carl Diez und vom katholischen Priester Georg Jäger geführt. Die muss man nicht unbedingt kennen, aber es sind interessante Persönlichkeiten; und zwar so interessant, dass es Artikel über sie auch im Konradsblatt gegeben hat. Um das zu betonen: Die Löffinger Ereignisse vom 23. Juni 1934 haben indirekt zu Artikeln geführt, die im Gebiet des ganzen Erzbistums zu lesen waren.

Der katholische Priester Georg Jäger war auch journalistisch tätig. Während seiner Zeit in Jestetten hielt er unter anderem Vorträge über „Nie wieder Krieg“ und „Friedensarbeit“.

Es ist nicht überraschend, dass Jäger analog zu Guido Andris mit den Nazis in Konflikt geriet. Die Vorstellungen der Nazis bezeichnete Jäger als «Katastrophenpolitik» und forderte stattdessen eine Zusammenarbeit der „Länder Europas“ und aller „christlichen Völker“.

Ähnliche Gedanken finden sich auch beim Reichstagsabgeordneten Carl Diez. Diez war ebenfalls sehr katholisch. Aber ein wunderbares Beispiel, wie sich Carl Diez weit darüber hinaus mit den Menschen verbunden fühlte, finden sich in seinen Erinnerungen an seinen Einsatz im 1. Weltkrieg in Rumänien. Und zwar war ein deutscher, ein katholischer Soldat gefallen. Allerdings war kein katholischer Priester für die Beerdigung zu finden. Also musste ein evangelischer ran, und auch sonst war nichts so, wie man es sich bei einem «katholisches Begräbnis» vorstellt:

Ein katholischer Soldat wurde von mohammedanischen Soldaten zu Grabe getragen. Ein evangelischer Geistlicher sprach ihm das Grabgebet und auf orthodoxem Friedhofe liegt er nun begraben, in einem Grabe, das Zigeuner geschaufelt hatten.

Und als eine Art Schlussfolgerung bemerkt Diez weiter:

„Die Erde ist überall des Herrn“, und des gleichen Vaters Kinder sind wir Menschen, daher Brüder, auch wenn wir uns hassen.

Man muss sich schon fragen, warum es angesichts dieser Gedanken der Verbundenheit aller Menschen noch einen zweiten Weltkrieg gegeben hat. Die Idee der später so erfolgreichen europäischen Zusammenarbeit war da, wurde aber erst Jahrzehnte später angegangen.

Auch die mitgebrachte Glocke ist ein Symbol der Verbundenheit. Natürlich ist diese Glocke wegen dem Geläut von Karl Bader hier. Aber woher bekommt man eine Glocke? Zudem nicht zu klein und auch nicht zu groß? Ich habe gewusst, dass die Kollegen vom historischen Archiv (Dokumentationsstelle) in Rheinau, auf der anderen Rheinseite, eine Glocke haben. Anzufragen habe ich mich aber nicht wirklich getraut.

So schüchtern wie es eben nur geht habe ich die Frage einer möglichen Ausleihe doch einmal in den Raum gestellt … die Bestimmtheit der Reaktion hat mich überrascht… «Aber natürlich leihen wir dir die Glocke für diesen wichtigen Anlass aus. Diese Veranstaltung unterstützen wird.» Positiv überrascht und dankbar habe ich die Glocke so mitbringen können. Klopfet an, und es wird euch aufgetan.

Ein weiteres Beispiel. Was mich noch immer bewegt, das ist die Geschichte der drei Josefs. Einen kennen wir bereits, nämlich den Löffinger Josef Benitz. Josef Benitz hat seine Namensvettern, die polnischen Zwangsarbeiter Josef Bestry und Josef Stempniak wohl nicht gekannt; Josef Benitz hat wahrscheinlich auch nie von irgendwelchen Hinrichtungen im Herbst 1942 in Jestetten und Weizen gehört. Aber das Wirken von Josef Benitz hat indirekt, über viele Zwischenstationen – auch über mich – dazu geführt, dass es 80 Jahre nach den Hinrichtungen seiner Namensvettern erstmalig/endlich Gedenkveranstaltungen für diese gegeben hat. Und in beiden Fällen haben wir zum Gedenken die Glocken geläutet; wer denkt da nicht auch an Karl Bader.

Für Josef Bestry haben wir seit kurzem auch einen Gedenkstein, und der zugehörige Artikel hat es ebenfalls ins Konradsblatt geschafft. Aber nichts davon hätte ich alleine erreichen können. Es hat nur deshalb geklappt, weil viele der Meinung waren, dass das eine gute Sache ist und sich engagiert haben. Dass es nun ein würdiges Gedenken an Josef Bestry und Josef Stempniak gibt, das ist ein großer Erfolg, und dieser Erfolg basiert auf der Beschäftigung mit Josef Benitz.

Immer wieder rede ich von «wir», aber wer ist das? Nun, das kann Bildungswerk, Gemeindeteam, Kolpingsfamilie, Gemeinderat oder was auch immer sein. Das sind du und ich, wir alle, jeder, der etwas macht, weil es gemacht werden muss.

Zurück zu meiner Eingangsfrage: 23. Juni 1934, welche Farbe hat der Tag? Nun, diese Frage kann ich ohne Probleme beantworten: Der Tag hat die Farbe, die wir ihm zuweisen. Manche mögen ihn schwarz sehen, ich sehe genau das Gegenteil, nämlich das Einschalten des Lichts, um das Dunkel des eigenen Blinden Flecks auf zu hellen. Vielen Dank!

Für mich ist der 23. Juni 1934 klar ein Ehrentag der Aufrechten. Menschen, die sich für ihre positiven Werte eingesetzt haben; Persönlichkeiten, die die Zeichen der Zeit erkannt und trotz der Gefahr gehandelt haben.

Und in einem gewissen Sinn ist dieser 23. Juni 1934 noch gar nicht vergangen. Weil uns dieses historische Ereignis bewegt, weil wir uns zu eigenem Tun inspirieren lassen, wir aktiv werden und uns für unsere Werte und insbesondere für die Demokratie einsetzen. Der 23. Juni 1934 vergeht nicht, weil wir dem Beispiel der damaligen Aufrechten folgen und uns ebenfalls als Zeugen der Wahrheit betätigen. Über Zeit und Raum hinweg sind wir Menschen miteinander verbunden, die Aufrechten vom 23. Juni 1934 inspirieren uns, selber aktiv zu werden; und unsere positiven Taten inspirieren hoffentlich irgendwann andere zu positivem Engagement.

Es bleibt eine große Frage. Ich kann die Antwort hier nicht geben, weil wir sie nur zusammen beantworten können. Was machen wir aus dem 23. Juni 1934, und wann stellen wir das Denkmal für diesen Tag auf?

Damit bin ich fast am Ende. An diesem Ende gibt es aber fast nichts mehr zu sagen, es ist zu tun.
Eingedenk Karl Bader und den anderen Aufrechten vom 23. Juni 1934!