2020 – Das Jahr im Bann der Pandemie

Grenzsperrung: Jede Richtung ist blockiert

Beim Ausbruch einer Seuche auf einem anderen Kontinent fühlen wir uns zunächst nicht bedroht. So wird für das Ebolafieber zwar eine Sterblichkeitsrate von 50% angegeben, aber eine Epidemie in Afrika gefährdet uns in Mitteleuropa nicht unmittelbar.

Auch der Ausbruch der Covid-19 Pandemie mit dem Corona Virus war aus mitteleuropäischer Sicht erst einmal eine Seuche im Fernen Osten. Um die Jahreswende 2019/20 kamen Nachrichten über die Gefährlichkeit aus China. Es gab Witze darüber, dass man sich mit Corona Bier gegen das Virus impfen könnte. Aber dann war das Virus auch auf einmal in Mitteleuropa angekommen und hat das Jahr 2020 in seinen Bann gezogen. Es gab intensive Eindrücke und ungeahnte Erfahrungen, die uns eine Weile geprägt haben, dann aber durch andere ersetzt wurden; und im Rückblick erscheinen sie fast schon wieder unglaublich.

Die Pandemie ist noch lange nicht vorbei und wird uns noch eine Weile auf die eine oder andere Art beeinflussen, für eine Rückblende ist es also noch zu früh. So sind die ganzen Auswirkungen auf die Geschäftswelt in unserer Gemeinde und das soziale Verhalten – Werden wir uns wieder die Hände geben? – Aber bevor die tiefen Eindrücke vergessen werden kann man jetzt eine Momentaufnahme machen und die Frage, was die Pandemie ändern wird, in den Raum stellen.

Das Virus naht

Ende 2019 wurden in der chinesischen Stadt Wuhan verstärkt akute Atemwegserkrankungen beobachtet. Zunächst entwickelte sich die Krankheit zu einer Epidemie in China, nach weiterer Ausbreitung erklärte die WHO die Epidemie zu einer  „gesundheitlichen Notlage mit internationaler Tragweite“ und am 11. März zu einer Pandemie. Krankheitsfälle in Mitteleuropa, so in Italien, führten zum Bewusstsein, dass die Krankheit auch uns erreichen wird. Dies führte zu Hamsterkäufen; UHT-Milch, Mehl, diverse Lebensmittelkonserven und insbesondere WC-Papier waren auf einmal ausverkauft: Geleerte Regale, wann hat es das in unserer konsumverwöhnten Gesellschaft zuletzt gegeben? Der Ausverkauf von Klopapier war ein bestimmender Aspekt dieser Zeit und wurde in den unterschiedlichsten Medien thematisiert.

Auch auf den gesellschaftlichen Bereich hat die Pandemie Auswirkungen gehabt, das Händeschütteln war spätestens seit Beginn März verpönt, und in der katholischen Kirche waren die kleinen Weihwasserbecken auf einmal geleert. Es folgten Absagen von Veranstaltungen, unter anderem die Generalversammlung der Feuerwehr. Und alles entwickelte sich rasend schnell. So organisierten Kolping und Bildungswerk zwar noch am 12. März 2020 einen gut besuchten Vortrag von Berthold Danner über seine Wanderung durch Deutschland, wobei auch hier auf Abstand der Besucher geachtet wurde, aber die für den 16. März angesetzte Kolping-Generalversammlung musste dann auch abgesagt werden.

Es folgte eine Reihe von immer weiter reichenden Einschränkungen. Am 13. März empfahl das Landratsamt eine Absage von Veranstaltungen mit mehr als 50 Teilnehmern aus.

Der Lockdown

Basierend auf steigenden Infektionszahlen erfolgte in kürzester Zeit das Zurückfahren von sozialen Kontakten auf vielen Ebenen. Auf den 17. März wurden in Baden-Württemberg Schulen und Kindergärten geschlossen, fast ohne Vorbereitungszeit mussten die Schulen auf Fernunterricht via Internet umstellen. Mit noch kürzerer Ankündigung kam die Erklärung des Bundesinnenministeriums, dass mit sofortiger Wirkung „vorübergehende Grenzkontrollen“ zu mehreren Nachbarländern und insbesondere zur Schweiz durchgeführt werden. Nur noch mit „triftigem Reisegrund“ dürfe man die Grenze übertreten. Als eine Folge davon wurden fast alle Grenzübergänge verrammelt und mit Sperren versehen. Lediglich die beiden Hauptübergänge im Jestetter Zipfel blieben offen, nämlich Jestetten-Neuhausen und Lottstetten-Solgen. Damit war ein Großteil unserer Bevölkerung regelrecht eingeschlossen. Nachdem die Grenzkontrollen in den letzten Jahrzehnten immer lascher geworden waren, bedeutete diese weitgehende Schließung eine unglaubliche Einschränkung.

Ein Resultat der Reduktion auf wenige Übergänge war eine Art Karawane von Grenzgängern aus umliegenden Gemeinden wie Dettighofen und Klettgau, die diese Umwege fahren mussten.

Aber nicht alle Grenzgänger konnten zur Arbeit, da ihre Arbeitgeber die Bürogebäude verschlossen und Home Office angeordnet hatten. Das funktionierte aber nicht in allen Bereichen, denn manche Jestetter arbeiten mit sensiblen Daten, die nicht über die Grenze dürfen; solche Grenzgänger wurden in Zwangsferien geschickt. Es gab geschlossene Geschäfte, und Tätigkeiten mit Körperkontakt – z.B. das Haareschneiden – waren nicht mehr erlaubt.

Das Warenangebot in den offenen Läden normalisierte sich schnell, nach und nach waren die zuvor durch Hamsterei ausverkauften Waren wieder vorhanden. Es kehrte Ruhe ein, und hier begegnete man auf einmal vielen Jestetten. Das Angebot wurde aber im Lauf der Zeit aber wegen der reduzierten Nachfrage ausgedünnt, Aldi reduzierte gar seine täglichen Öffnungszeiten Aldi um 5 Stunden.

Über viele Jahre hinweg war der Einkaufstourismus ein bestimmender Faktor in unserer Gemeinde. Nun war es auf einmal sogar verboten, Waren in die Schweiz mitzunehmen. Während es kurz zuvor noch die Hamsterkäufe durch Schweizer gegeben hatte, war es nun auf einmal streng verboten, zum Beispiel nur ein Glas Tomatensauce für die Kinder einer Arbeitskollegin über die Grenze zu nehmen.

Der Eisenbahnverkehr führte zu Verwirrungen. Am 20. März wurde gemeldet, dass die S9 nicht mehr im Jestetter Zipfel hält. Drei Tage später kam die Meldung, dass die S9 doch hält, aber ab dem 30. März war der Halt dann doch aufgehoben.

Auch die Gemeinde war vom Lockdown betroffen. Das Rathaus war für den Publikumsverkehr gesperrt. Wichtige Entscheide des Gemeinderats mussten im elektronischen Umfrageverfahren gefasst werden.

Immerhin, es gab keine Ausgangssperre wie in anderen Ländern. Man konnte also einfach dem potentiellen Lagerkoller in den eigenen vier Wänden entfliehen und einen Spaziergang beim sonnigen Frühlingswetter machen.

Das Fehlen von gemeinschaftlich erlebten Gottesdiensten war ein großer sozialer Einschnitt, insbesondere deshalb, weil es auch die Osterzeit betraf. Für Mitglieder von Kirchenchören bedeutet Fasten- und Osterzeit im Normalfall eine große Anspannung; da wird wochenlang geprobt, um dann mit Auftritten am Gründonnerstag und am Karfreitag das Osterfest einzuleiten. Doch im Jahr 2020 gab es auf einmal viel Freizeit.

Aber auch wenn es keine gemeinsam erlebte Feier des Osterfestes gegeben hat, so ist für den katholischen Pfarrer Richard Dressel wichtig, dass Ostern nicht ausgefallen ist. Gerade das Feiern in sehr kleinem Rahmen habe habe ein tiefes rituelles Erleben dargestellt.

Der Lockdown stellte für viele ein Bedrohung der wirtschaftlichen Existenz dar. Auf der anderen Seite bot diese Zeit mit ihrer „Entschleunigung“ eine wichtige Erfahrung dar. Die Hetze durch viele Termine wurde unterbrochen, weil eben viele dieser Termine ausfielen.

Auch Beerdigungen stellten eine ungewohnte Erfahrung dar. Um nur ein Beispiel zu nennen, Hugo Jehle hatte über viele Jahrzehnte hinweg unsere Gemeinde mitgeprägt; sein Begräbnis hätte nur das werden können, was man eine „große Beerdigung“ unter Anteilnahme vieler Personen und Vertreter von Organisationen nennt. In der Ausnahmezeit der Pandemie durfte die Beerdigung aber nur im allerengsten Familienkreis stattfinden.

Die extreme Situation hat auch dazu geführt, dass die FAZ am 11. Mai 2020 unter dem Titel „Es gibt wieder Klopapier“ über Jestetten und die Grenzregion berichtet hat. Das Bild vom sonst so betriebsamen, nun aber leeren Aldi Parkplatz hat dabei besonders interessiert, denn dieses Foto war über die Breite von fünf Textspalten abgedruckt. Bemerkenswert war auch, dass das genannte Klopapier beim Erscheinen des Artikels längst kein Thema mehr war. Ein Thema des Lockdowns waren hingegen die langen Haare, da Friseure ihre Arbeit nicht ausführen durften.

Die anfangs so weit akzeptierte Sperrung der Grenze löste immer mehr Widerspruch aus. Neben der Tatsache, dass das Virus auf beiden Seiten der Grenze ist, und den Erschwernissen für die Bewohner der Grenzregion war auch klar, dass die Sperrung nicht absolut war. Offensichtlich wurde die Grenze nicht nur für triftige Gründe überquert. Und wer den verworrenen Grenzverlauf kennt, der weiß, dass eine solche Grenze realistischerweise gar nicht kontrolliert werden kann.

Die Verweigerung der Durchfahrt durch den Kanton Schaffhausen brachte für viele aus dem Jestetter Zipfel absurd lange Umwege auf dem Weg zur Arbeit oder zur ärztlichen Behandlung.

 Zudem wurden die Vorschriften durch unterschiedliche Beamte unterschiedlich ausgelegt. Kritisiert wurde auch, dass Sperren in Distanz zur Grenze errichtet wurden und so das Betreten von deutschem Gebiet zwischen Sperre und Grenze verboten war. Auch der Schülertransport nach Singen stellte ein Problem dar; zwar wurde im Lauf der Zeit der Transfer der Schüler nach Singen wieder erlaubt, aber wie sollte das funktionieren, wenn der Zug nicht in Jestetten hält?

Langsame Öffnung

Die Öffnung begann mit einer Verschärfung, ab dem 27. April galt eine Maskenpflicht in Geschäften und im öffentlichen Verkehr. Die Maske wurde zum neuen Symbol der Zeit, sei es eine selbstgenähte Maske mit zum Teil lustigen Mustern oder eine weggeworfene Einwegmasken. Reibereien gab es auch in unserer Gemeinde um die Einhaltung dieser Regel.

Seit Ende April gibt es wieder Gemeinderatssitzungen, die aber im Stil der Zeit mit viel Distanz zwischen den teilnehmenden Personen in der Gemeindehalle stattfinden.

Ab dem 4. Mai durften die Friseure wieder ihrer Arbeit nachgehen, die Zeit der langen Haare ging zu Ende.

Die Abschlussprüfungen der Realschule hätten ursprünglich nach den Osterferien im April stattfinden sollen, mussten aber auf ab Mitte Mai verschoben werden. Nach und nach wurde der Präsenzunterricht in den Schulen wieder eingeführt; zuerst nur in Teilen, um die Personengruppen nicht zu groß werden zu lassen.

Am 16. Mai gab es Lockerungen an der Grenze, bislang geschlossene Übergänge werden geöffnet. Das Abstempeln von Ausfuhrzetteln wurde ab dem 2. Juni wieder durchgeführt, wobei für die Einreise ein „triftiger Grund“ angegeben werden musste, und Einkaufstourismus war nicht ein solcher Grund. Mitte Juni erfolgte dann die Grenzöffnung, wobei es hier noch Verwirrung um das genaue Datum gab: Während die Schweiz die Grenze schon am 15. Juni öffnete, wollte Deutschland erst am 16. Juni folgen.

Leben mit dem Virus

Das Leben hat sich seit dem Juni in vielen, aber nicht in allen Bereichen normalisiert. Wir können weitestgehend frei in und durch die Schweiz reisen. Es gibt auch wieder Einkaufstourismus, halt mit Distanz und Maskenpflicht. Der befürchtete Zustand mit langen Schlangen vor den Läden hat sich so nicht eingestellt.

Aber das Virus ist nach wie vor präsent und wird es wohl auch noch längere Zeit bleiben. Daher ist vor allem im sozialen Bereich Distanz angesagt. So hat die Realschule für jede ihrer Abschlussklassen eine einzelne Feier durchgeführt: Maximal zwei Personen durften einen Abschlussschüler begleiten, und die Feier musste rasch durchgeführt werden, damit dann die nachfolgende Klasse ihre Feier haben konnte.

Die Kirche St. Benedikt wird in diesen Zeiten rege genutzt. Eigentlich hat die Kirche rund 600 Plätze, mit den Distanzregeln verbleiben immerhin noch 100. Die altkatholische Erstkommunion und die evangelische Konfirmation werden in St. Benedikt gefeiert, auch gibt es Anfragen der Musikvereine für Konzerte.

Wir müssen also mit dem Virus leben. Es ist klar, dass sich manche Sachen dauerhaft geändert haben oder werden. So hat sich der Zusammenhalt der katholischen Ministranten durch die lange Pause reduziert. Der elektronische Unterricht wird in unseren Schulen zukünftig wohl eine größere Rolle spielen.

Die aktuellen Einschränkungen bleiben wohl bestehen. Je nach Infektionsrate wird es vielleicht wieder mehr Einschränkungen geben. Nachdem für Jestetten über längere Zeit 7 Genesene genannt wurden, sind es aktuell (28.8.2020)  8 Genesene und 1 akute Infektion.


Entwurf für die Jestetter Dorfchronik 2020, Stand 28.8.2020