Am 15. Mai 1945 – eine Woche nach Kriegsende – wurden die Dörfer Altenburg, Jestetten und Lottstetten „evakuiert“, d.h. die deutsche Bevölkerung wurde durch die französische Besatzungsarmee ohne Angabe von Gründen und ohne Aussicht auf Rückkehr aus ihrer Heimat vertrieben und dann in Dörfern des Südschwarzwaldes einquartiert.
Eine vom Bildungswerk Jestetten geplante Veranstaltung zum Hintergrund der Ereignisse von 1945 und mit einer Podiumsdiskussion zu „Flucht und Vertreibung“ konnte pandemiebedingt nicht durchgeführt werden. Die Ereignisse von 1945 sind in der Dorfchronik von 1995 und im Jestetter Dorfbuch von 2001 ausführlich beschrieben. Wie nun das Bildungswerk mit einer kleinen Ausstellung in der Kirche St. Benedikt aufzeigt, gibt es aber doch einige interessante, bislang weitgehend unbekannte Aspekte.
Einer dieser Aspekte ist die Berichterstattung in Schweizer Medien. Unmittelbar nach der Vertreibung der Deutschen hat ein Reporter seine Eindrücke von den „leeren Dörfern“ beschrieben, und der Fotograf Hans Gabriel hat diverse Ansichten von Lottstetten und Jestetten fotografiert. Dazu gehören auch Fotos von der Abfertigung eines Zuges, wohl eines Sonderzuges. Es ist bislang unbekannt, was die Bedeutung dieses Zuges gewesen ist, dass er von Hans Gabriel eingehend fotografiert worden ist. Schweizer Zeitungen bewerteten die Ereignisse unterschiedlich, während beispielsweise die „Schaffhauser Arbeiter Zeitung“ mit geradezu sexistischer Häme berichtete, zeigten andere Zeitungen Mitgefühl.
Es wird auch die Frage nach der Konradskapelle aufgeworfen. Die jährliche Wallfahrt nach Einsiedeln wird ja als Dank für die Rückkehr aus der Evakuierung nach rund drei Monaten durchführt. Es gibt aber auch die Überlieferung, dass es in Jestetten ursprünglich die Idee gab, eine Kapelle für den Heiligen Bruder Konrad von Parzham zu bauen. Dies deshalb, weil die Vertriebenen an der Konradsgrotte in Ühlingen mehrtägige Andachten durchgeführt hatten. Auch wenn diese Überlieferung von manchen bestritten wird, so steht doch fest, dass der Jestetter Bildhauer Siegfried Fricker (1907-1976) in unmittelbarer Nachkriegszeit eine große Figur den Heiligen geschaffen hat, die seit rund 20 Jahren in der Kirche St. Benedikt steht. Es wird vielleicht nie geklärt werden können, wie konkret die Pläne für den Bau der Konradskapelle gewesen sind.
Die Vertreibung aus der Heimat war für die Betroffenen ein traumatisches Erlebnis, und auch wenn sie nach ein paar Monaten doch zurückkehren konnten, so waren sie für ihr Leben geprägt. Die Ausstellung versucht noch, die Evakuierung von 1945 in den Kontext des generellen Themas von Flucht und Vertreibung zu stellen. Dazu wird auch das „Unternehmen Alberich“ im Jahr 1917 beleuchtet. Das war eine Frontbegradigung durch die deutsche Armee, wobei die Zivilbevölkerung aus dem betroffenen Gebiet vertrieben und alle Infrastruktur in diesem Gebiet zerstört wurde. Der Blick auf das militärische Denken, alles den eigenen militärischen Notwendigkeiten unterzuordnen, erklärt auch, wie es zur eher harmlos erscheinenden Bezeichnung „Evakuierung“ gekommen ist.
Die Ausstellung ist noch bis Ende November zu den üblichen Öffnungszeiten der Kirche St. Benedikt zu sehen.
Das Bildungswerk Jestetten bedankt sich bei Markus Obert, Leiter Bildungszentrum Waldshut, für die Unterstützung beim Erwerb der Bildrechte.
Konrad Schlude