Beim Ausdruck „Die Eisenbahn kommt“ mag man an einen heranbrausenden Zug denken, in seinem gleichnamigen Bild zeigt Albert Anker aber eine ganz andere Szene vor dem Bau der Eisenbahnstrecke.
Peter Jezler beschreibt die Szene wie folgt:
Auf dem Weg zwischen Dorf und Obstgarten nehmen zwei Vermesser mittels Theodolit das Gelände auf. Die Kinder von Ins sitzen im Gras und verfolgen das Geschehen.
Harmlos kündigt sich die neue Zeit an. Doch schon bald wird der Spiel- und Lebensraum durchschnitten sein, wird jede Zugsdurchfahrt Lärm und Gefahr bedeuten.
Es ist anzunehmen, dass es beim Bau der Eisenbahn durch Jestetten ähnliche Szenen gegeben hat, als fremde Leute ins Dorf gekommen sind und Vermessungen durchgeführt haben. Da die Strecke durch Jestetten seit mehr als 120 Jahren ist Betrieb ist, kann sich heute niemand mehr an die Zeit vor dem gewaltigen Umbruch der Anbindung unserer Gemeinde an das große Eisenbahnnetz erinnern. Dazu gehört auch das Erlebnis einer Landschaft, die nicht von einer Eisenbahnstrecke durchschnitten und geteilt wird. Wir kennen nur den aktuellen Zustand, eine Vorstellung der Landschaft ohne Eisenbahnlinie oder von einer anderen Streckenführung haben wir nicht. Wie Pläne im Archiv von SBB Historic zeigen, wurden unterschiedliche Möglichkeiten geprüft.
Varianten
Ein Plan „Varianten“ (008_069_01) vom 30. Oktober 1891 zeigt drei verschiedene Möglichkeiten einer Streckenführung durch Jestetten.
Jede dieser Varianten hat ihre Vor- und Nachteile bezüglich Aufwand von Erdbewegungen (Dämme und Einschnitte), Kunstbauten (Tunnel und Brücken) und beschrankten Bahnübergängen.
Da ist zum einen die „Nordvariante“ mit dem Bahnhof im Bereich der heutigen Bivangblöcke 16 bis 20. Im weiteren Verlauf Richtung Schaffhausen biegt die Strecke noch weiter nördlich ab und führt dann durch die Au, d.h. nördlich am Dankholz vorbei statt wie heute südlich. Der Vorteil dieser Strecke mag in einem günstigeren Längenprofil (Höhen- oder Streckenprofil) gelegen haben.
Die „Mittelvariante“ führt mitten durchs heutige Dorf, etwas südlich der heutigen Schwarzwaldstraße, quert beim Hombergbrunnen die Hombergstraße. Der Bahnhof ist hier am heutigen Standort. Die heutige Streckenführung ist somit eine Kombination von Nord- u. Mittelvariante.
Dass es dabei noch Untervarianten gegeben hat, das zeigen weitere Pläne. So zeigt ein Plan vom 7. September 1892 die „N.O.B. Variante“ im Vergleich mit der „Variante Unmuth“ (16-08 070-01). Die „N.O.B. Variante“ entspricht der heutigen Streckenführung, aber mit Bahnhof in der Bivangstraße (analog zur zuvor genannten Nordvariante). Die „Variante Unmuth“ ist die zuvor genannte Mittelvariante, aber der Bahnhof wäre hier westlich der Hombergstraße, parallel zur Schwarzwaldstraße gewesen.
Bemerkenswert im Plan von 1891 ist eben noch die „Südvariante“; von Lottstetten her kommend, durchstößt diese Variante mit einem etwa 330 Meter langen Tunnel den Birret und wird dann unterhalb der Talmühle über ein Viadukt über den Volkenbach und südlich um Jestetten herum geführt. Der Bahnhof wäre bei dieser Variante in der Nähe des Sportplatzes.
Der Tunnel wäre 330 Meter lang gewesen, das Viadukt wäre mit einer Länge von rund 300 Metern und einer Höhe von etwa 35 Meter ziemlich eindrücklich gewesen. Ein Längenprofil mit Titel „Roth punktirte Variante“ (067-01) vom 30. Oktober 1891 zeigt die Details:
Die Südvariante ist offensichtlich bald aufgegeben worden, denn für die Folgejahre zeigen sich keine weiteren Pläne.
Diskussion um Bahnhof beim „Autohaus Cigolla“.
Im Jestetter Dorfbuch wird auf Seite 545 erwähnt, dass der Alternativstandort des Bahnhofs beim „Autohaus Cigolla“ (am heutigen Kreisverkehr) gewesen sei. Diese Aussage kann durch die Pläne im Archiv von SBB Historic nicht bestätigt werden, gemäß diesen Unterlagen ist der Alternativstandort eben im Bereich der Bivangblöcke gewesen.
Umgehung von Jestetten
Auch nach dem Bau und der Einweihung unserer Eisenbahnstrecke im Jahr 1897 gab es Diskussionen über die Streckenführung. So wurde im Jahr 1934 die Idee diskutiert, die Strecke nicht mehr über deutsches Gebiet zu führen. Ein Punkt, der zur Diskussion einer anderen Streckenführung unter Umgehung von deutschem Gebiet geführt hat, war vielleicht das Anhalten eines SBB Schnellzuges durch deutsche Beamte im Dezember 1933.
Im Archiv von SBB Historic findet sich ein Brief der Sektion Zürich des Schweizerischen Techniker-Verbandes an den Regierungsrat Zürich. In diesem vom 15. Februar 1934 datierten Brief werden zahlreiche Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen vorgeschlagen, darunter unter Punkt 4: „Umleitung der Bahnlinie nach Schaffhausen bei Jestetten und Lotstetten durch ausschliessliches Schweizergebiet“
Im Antwortbrief vom 28. Februar 1934 schreibt die SBB aber lapidar: „ … ein solches (Projekt) aller Voraussicht nach von unserer Verwaltung in absehbarer Zeit nicht aufgestellt werden wird.“
Schlussbemerkung
Es ist unbestritten, dass der Eisenbahnanschluss eine große Bedeutung für Jestetten dargestellt hat und noch immer darstellt. Die Pläne im Archiv von SBB Historic zeigen, dass die uns so vertraute Strecke auch anders hätte gebaut werden können.
Und selbst die unbeachtete „Südvariante“ könnte eines Tages doch wieder interessant werden. Denn die Überlegungen für eine allfällige Umgehungsstraße gehen in etwa in Richtung dieser vor mehr als 125 Jahren verworfenen Variante; es gäbe zwar keinen Tunnel, aber doch das Viadukt über den Volkenbach.
Literatur:
Peter Jezler (Hrsg): ALBERT ANKER und der Realismus in der Schweiz Ausstellungsskript, Museum zu Allerheiligen, Schaffhausen 2013