Leserbrief an die FAZ
Betr.: Artikel „Zwei Wochen im Herbst und der ewige Streit der Erben“ von Matthias Rüb, FAZ 23.10.96, und „Ein gefährlicher Augenblick scheinbaren Gelingens“ von Georg Paul Hefty, FAZ 26.10.96
In diesen Artikeln berichten Sie ausführlich über den Aufstand in Ungarn und seine Auswirkungen bis in die Gegenwart. G.P. Hefty sieht die Nachwirkungen des Aufstandes als erschöpft an; die Forderungen der Aufständischen von 1956 sind nach 1989 erfüllt worden, die Bevölkerungsmehrheit in Deutschland ist nach 1956 geboren und somit am Aufstand nicht mehr interessiert. Ist nun alles nur noch Geschichte, abgelegt in verstaubten Reden und Büchern?
Obwohl ich erst Jahre nach dem Ungarnaufstand geboren worden bin und keinerlei verwandtschaftlichen Beziehungen nach Ungarn habe, muß ich diese Frage für mich persönlich mit aller Kraft verneinen. 1987 machte ich mich bei einem Besuch in Budapest auf die Suche nach dem auch von Matthias Rüb beschriebenen Gräberfeld 301 mit den dort verscharrten Opfern des Aufstands, diese Suche war für mich damals eine einzige Enttäuschung:
Ich hatte erwartet, irgendwelche Zeichen des Erinnerns zu finden, zumindest ein Hoffnungsschimmer, daß das Verbrechen von 1956 nicht vergessen war. Doch nichts davon fand ich. Stattdessen führte mich die Suche durch das kniehohe Gras eines von undurchdringlichem Gestrüpp flankierten Feldwegs in die scheinbar absolute Vergessenheit. Nur am Markierungsstein mit der Aufschrift „301“ lagen die kümmerlichen Überreste einiger Blumen. Das Grabfeld selber konnte man nur als vollkommen verwachsen bezeichnen: Büsche und hohes Dürrgras. Nur ein paar wenige schiefe Grabkreuze aus rostigen Eisenrohren bezeugten das Grabfeld. Daß es auch noch Grabhügel gab, merkte ich erst, als ich über einen stolperte. Das Gräberfeld 301 und die Erinnerung daran schienen vollkommen aus einer anderen Welt zu sein; durch das Verdrängen war das Unrecht zementiert worden.
Doch keine zwei Jahre später wurden die Opfer rehabilitiert und exhumiert, von einem Vergessen konnte gar keine Rede mehr sein. Versteckt hatte das Erinnern an das Unrecht überlebt. Mehr noch als der Fall der Mauer in Berlin ist dieser Vorgang für mich ein Symbol der Hoffnung, daß der Drang nach Freiheit und der Wille zur Wahrheit letzten Endes jede Gewaltherrschaft bezwingen.
Konrad Schlude