Zum Verständnis von „Großmacht“

Leserbrief zum Artikel „Russland und die interessierten Fortschrittsprediger“ von Eberhard Straub, FAZ vom 28.8.2008

Natürlich werden politische und historische Ereignisse immer vom persönlichen Standpunkt her betrachtet. Was für einen eine historische Niederlage ist, ist für einen anderen eine positive Entwicklung. Dies zeigt sich auch an der Diskussion um das russische Eingreifen in Georgien, während viele das Vorgehen Russlands kritisieren, kommt Eberhard Straub in seinem Artikel zu einem anderen Schluss. Straub spannt einen Bogen von den Napoleonischen Kriegen bis in die Gegenwart und versucht nachzuweisen, wie Russland in dieser Zeit beruhigend auf das europäische Machtgleichgewicht gewirkt hat. Nun mögen einige Details dieser Argumentation stimmig sein, aber schon allein die von Straub postulierte politisch-historische Konstanz über einen Zeitbereich von 200 Jahren, erscheint fragwürdig. Am Ende seines Artikels kommt Straub dann auf den wirklichen Hintergrund seines Anliegens, er spricht von Russland als „klassische europäische Großmacht“. Der Begriff „Großmacht“ ist der Schlüssel zum Verständnis der Vorgänge im Kaukasus.

Der damalige russische Aussenminister Primakow sprach ebenfalls von Russland als Großmacht (FAZ vom 13.1.1996). Und unter dem Deckmantel dieses Begriffs wird versucht, Druck auf andere auszuüben. Interessanterweise kommt dann immer auch die Forderung, dass man als Großmacht anerkannt werden soll. Auf der einen Seite gibt es also den russischen Anspruch, eine Großmacht zu sein; auf der anderen aber die Verbitterung, dass dieser Anspruch nicht anerkannt wird. Solche Situationen sind nicht neu, auch vor dem 1. Weltkrieg wollten viele europäische Staaten Großmächte sein; tatsächlich aber steckte hinter dem Anspruch eine nervöse Unsicherheit, die dann den Weg in die Katastrophe des Weltkriegs geebnet hat.

Fazit, der Anspruch, Großmacht sein zu wollen, ist sehr oft Ausdruck einer Art pubertären Weltsicht Jugendlicher: Die Kraft ist vorhanden, aber der Verstand zur Kontrolle dieser Kraft ist noch nicht vollständig ausgeprägt. Zur Großmacht fehlt Russland insbesondere die geistige Größe; und die hat der Dichter Reinhold Schneider (1903-1958, Friedenspreis des deutschen Buchhandels 1956) einmal wie folgt charakterisiert:
1.) Die Macht, etwas tun zu können.
2.) Die Demut, dieses nicht tun zu müssen.
Russland hat das Potential, positiven Einfluss auf das Weltgeschehen zu nehmen; das ist unbestritten. Im Moment dürfte es aber noch ein wenig an der notwendigen Demut fehlen.


Konrad Schlude