Warum wir die klugen Jungfrauen wieder aufgestellt haben!

Die an der Aufstellung Beteiligten: Konrad Schlude, Bernhard Merk, Radegund Fricker, Heinz-Dieter Metzger (vlnr)

Bei der Erfassung der Kleindenkmale in Jestetten wurden auch einige Objekte auf dem Friedhof beim Altersheim aufgelistet. Im Jahr 2016 wurde eines dieser Objekte, eine Holztafel mit dem Relief der klugen Jungfrauen beschädigt. Nun haben wir die Tafel nach erfolgter Restaurierung wieder am ursprünglichen Ort aufgestellt. Hier soll erklärt werden, warum es so wichtig war, diese Tafel wieder auf diesem Friedhof aufzustellen.

Auf dem Friedhof befindet sich ein Ensemble von Kleindenkmalen. Dazu gehören zwei Holztafeln mit Darstellungen der klugen Jungfrauen. Der Jestetter Bildhauer Siegfried Fricker (1907-1976) hatte diese Tafeln Mitte der 1930er Jahre geschaffen, und eines dieser Reliefs ist heute nach letztjähriger Beschädigung und zwischenzeitlich erfolgter Restaurierung wieder aufgestellt worden. Zwischen den beiden Tafeln befindet sich ein hölzernes Kreuz, das in den 1950er Jahren ebenfalls von Siegfried Fricker gemacht worden ist. Es gibt ferner einige Grabsteine von Ordensschwestern, die die Bewohner der damaligen Kreispflegeanstalt gepflegt haben. Und es gibt einen Gedenkstein von 1988 mit der Inschrift „DEN OPFERN VON KRIEG UND GEWALT“.

Mit seiner Inschrift erinnert der Gedenkstein insbesondere auch an die Opfer der Euthanasiemorde. Im Rahmen der T4-Aktion wurden 1940 viele Bewohner der Kreispflegeanstalt aus Jestetten abtransportiert und dann ermordet. Das Jestetter Dorfbuch spricht von mehr als 200 Opfern, es gibt eine Namensliste mit 119 Getöteten. Wie Fridolin Breig (1925-2010) berichtete, waren unter den Opfern auch Veteranen des 1. Weltkriegs, die wegen ihrer Kriegsverletzungen in der Kreispflegeanstalt in Jestetten waren. Auch wenn diese Aussage mangels schriftlicher Quellen bislang nicht bestätigt werden konnte, so ist doch belegt, dass die Euthanasiemorde vor Kriegsversehrten – offiziell „Ehrenbürger der Nation“ – nicht halt gemacht haben. Da die Euthanasiemorde zwar während des Krieges geschahen, aber ansonsten keinen direkten Bezug zum Krieg haben, ist die Erinnerung an die Opfer der Gewalt an diesem Ort sehr wichtig.

Die beiden Tafeln zeigen das biblische Gleichnis von den klugen Jungfrauen (Matthäus 25,1–13). Sie müssen auf den Bräutigam warten, der zu unbekannter nächtlicher Stunde kommen soll. Die klugen Jungfrauen sind vorbereitet und sind mit genügend Lampenöl ausgerüstet; sie sind wachsam, damit sie den Bräutigam nicht verpassen.

Die Botschaft „sei wachsam und sei vorbereitet“ ist angesichts der Dramen in der deutschen Geschichte eine treffende Warnung und wichtige Aufforderung. Die beiden Tafeln und der Gedenkstein bilden somit eine Einheit, die vervollständigt werden musste.

Als Leiter des Bildungswerks Jestetten habe ich mich herzlich bei Radegund Fricker für die Restaurierung bedankt. Gedankt habe ich auch Bernhard Merk und Heinz-Dieter Metzger, die mit mir die Erfassung der Kleindenkmale durchgeführt haben.

Landrat Martin Kistler bedankte sich aus der Ferne beim „Kleindenkmal-Team“ für dessen Engagement.

Das nun wieder vollständige Ensemble

Euthanasie: Der lange Schatten der Morde

Die Euthanasiemorde an Patienten der Jestetter Kreispflegeanstalt haben eine Vor- und auch eine Nachgeschichte. Zur Vorgeschichte, dass bereits früh über Tötungsabsichten gesprochen worden ist, gehört ein Bericht der katholischen Zeitung „Tagblatt vom Oberrhein“ vom 7. April 1932. Das Tagblatt berichtete damals über eine NS-Versammlung mit dem Landtagsabgeordneten Franz Merk am 3.4.1932 und charakterisierte Merk mit „der seinerzeit im Landtage die Kranken und Presthaften als Schädlinge des Volkes bezeichnete und sich gegen die ihnen zugewandte Fürsorge aussprach.“

Als ein weiteres Opfer der Morde muss man wohl auch den Anstaltsleiter Dr. Lichtenberger ansehen. Die Zeitung „Neue Zürcher Nachrichten“ berichtete am 3. Juli 1945 unter der Überschrift „Ein Altersheim wird «liquidiert»“:

Die ganze grauenhafte Tragik des Systems zeigt sich im Falle der Anstalt Jestetten und ihres Leiters, Dr. Lichtenberger. Die Anstalt Jestetten war vor dem Kriege ein Alters und Schwachsinnigenheim. Dr. Lichtenberger, der anfänglich Nazi war, dann aber noch vor dem Kriege von der Sache genug bekam und sich nach Möglichkeit aus dem politischen Leben zurückzog, erhielt 1938 von der badischen Sanitätsdirektion in Karlsruhe folgenden Befehl: „Sie haben die Insassen ihrer Anstalt namentlich aufzuführen, und zwar ausgeschieden in folgende drei Kategorien: Altersschwache, Geistesschwache und geistig Behinderte, eigentliche Geistesgestörte. Diese Ausscheidung erfolgt, um die Leute statistisch zu erfassen.“ Dr. Lichtenberger erfüllte diesen Auftrag. Kurz nach Kriegsausbruch bekam er einen zweiten Befehl, der lautete, daß die unter Kategorie 3 aufgeführten Anstaltsinsassen, also die Geistesgestörten, sich zum Abtransport bereitzumachen hätten. Sämtliche Effekten und Papiere seien mitzunehmen. Die Leute würden in eine „zu ihrer Unterbringung besser geeigneten Irrenanstalt in Württemberg“ gebracht. Es fuhr ein Autobus vor und die Leute wurden ordnungsgemäß übernommen. Man hörte nie mehr etwas von ihnen, hingegen kamen nach wenigen Tagen die Effekten dieser Leute kommentarlos zurück. Später stellte sich mit Gewißheit heraus, daß sie in der Nähe von Stuttgart vergast und zu Seife und Düngemittel verarbeitet worden waren! Weitere Transporte folgten! Die Leute wußten nun, was ihnen bevorstand. Weithin erscholl daher das Weinen und Flehen und Schluchzen, wenn der Autobus wieder und wieder erschien. Alle 250 Insassen des Altersheims wurden getötet. Dr. Lichtenberger verfiel in geistige Umnachtung und ist heute hoffnungslos geisteskrank. Die Leute der Ortschaft machen ihn für die Ermordung ihrer Väter, Mütter, Großeltern verantwortlich. Es kann nun aber nachgewiesen werden, daß Lichtenberger sich mit Händen und Füßen gegen diese Deportierungen gewendet hat.

Auch wenn manche Details des Artikels hinterfragt werden müssen, beispielsweise sind nicht alle Insassen getötet worden, so zeigt der Fall von Dr. Lichtenberger auch eine gewisse Tragik.


Literatur:

Erich Danner:
„Euthanasie“

In
Karl-Hellmuth Jahnke, Erich Danner (Hrsg):
Das Jestetter Dorfbuch
Kunstverlag Fink, 2001
Seiten 283 – 284

Nils Löffelbein:
Ehrenbürger der Nation
Die Kriegsbeschädigten des Ersten Weltkriegs in Politik und Propaganda des Nationalsozialismus
Klartext Verlag, 2013


Dr. Konrad Schlude